316Der Versuch einer umfassenden und abschließenden Definition des Grundsatzes von
Treu und Glauben muss zwingend scheitern. Wäre eine solche möglich, wäre die Verwendung eines so unbestimmten Begriffs durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung ohnehin unzulässig. Denkbar ist nur eine Umschreibung anhand der zugrundligenden sittlich-moralischen Standards, der identifizierbaren Fallgruppen und letztlich von Einzelbeispielen. Der Begriff
Treu und Glauben ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, ob er nun als solcher Teil eines allgemeinen, privatrechtlichen Grundsatzes von
Treu und Glauben, eines anderen Regeln zugrundeliegenden Rechtsprinzips oder einer speziellen Rechtsnorm ist.
Treu und Glauben und andere Verbote des Missbrauchs vertraglicher und sonstiger Rechte sind objektive Schranken der Rechtsausübung, deren Beurteilung im Einzelfall insbesondere auf der Grundlage des Maßstabs der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist. Die Definitionselemente dieses allgemeinen, objektiven Verhaltensmaßstabs sind eng mit den weiteren, begrifflich und funktional verwandten Maßstäben verbunden, die als gemeinsames Ziel sicherstellen sollen, dass die Ausübung von Rechten fair, verhältnismäßig und ohne Verursachung unnötiger Nachteile für die Gegenseite erfolgt. Viele dieser Begriffe enthalten neben der graduellen
317Komponente in Gestalt einer Art Übermaßverbots zusätzlich gewisse sittlich-moralische Standards und überschreiten gerade deshalb die Grenzen rechtlicher Definierbarkeit. Bei der folgenden Aufstellung ist darauf hinzuweisen, dass es sich um Beispiele handelt und die jeweilige begriffliche Verknüpfung mit
Treu und Glauben nicht notwendigerweise durchgehend im gesamten Unionsprivatrecht so verwendet wird:
- "Rechtsmissbrauch [wird] als die zweckwidrige Inanspruchnahme einer Rechtsposition definiert, welche die Möglichkeit, ein bestehendes Recht auszuüben, begrenzt. Dies bedeutet, dass die Inanspruchnahme eines formal gegebenen Rechtsanspruchs durch den Grundsatz von
Treu und Glauben beschränkt ist."
-
Treu und Glauben ist ein zentrales Definitionselement bei der Bewertung missbräuchlicher Vertragsklauseln.
- Angemessen bzw. vernünftig ist das, was eine nach
Treu und Glauben handelnde Person dafür halten würde, Art. 1:302 PECL.
- Die Untersuchung der Klauselrichtlinie hat ergeben, dass
Treu und Glauben insbesondere mit einem Gebot verhältnismäßigen Handelns korrespondiert.
- Der Verstoß gegen
Treu und Glauben richtet sich im Fall der Generalklausel der RL 93/13 danach, ob der Unternehmer vernünftigerweise erwarten durfte, dass sich der Verbraucher in einer Individualvereinbarung auf eine solche Klausel einlässt.
- Art. 2 lit. b) des CESL-Vorschlags enthält folgende Definition von
Treu und Glauben: Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck [...] (b) '
Treu und Glauben und redlicher Geschäftsverkehr' ein[en] Verhaltensmaßstab, der durch Redlichkeit, Offenheit und Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei in Bezug auf das fragliche Geschäft oder Rechtsverhältnis gekennzeichnet ist".
318- Der Kommentar zu
Treu und Glauben in den PECL weist darauf hin, dass der Grundsatz über seine einzelnen Anwendungen hinaus greife und "die Durchsetzung allgemein anerkannter Standards der Anständigkeit, Fairness und Vernünftigkeit in den Geschäftsbeziehungen" zum Ziel habe.
- Die 2011 neu gefasste Zahlungsverzugsrichtlinie verweist als Prüfungsmaßstab der groben Nachteiligkeit nunmehr auf grobe Abweichungen von der guten Handelspraxis, die gegen den "Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit" verstoßen.
- Loyalität und Billigkeit sowie Förderung des Vertragsziels:
- Loyalität und Billigkeit sind Definitionselemente für
Treu und Glauben im 16. Erwägungsgrund der Klauselrichtlinie.
- Die Förderung des Vertragszwecks durch Kooperation mit der anderen Partei konnte als Hauptgegenstand der Verpflichtung auf
Treu und Glauben in Art. 3 und 4 der Handelsvertreterrichtlinie identifiziert werden.
-
Treu und Glauben ist in der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken ein zentrales Kriterium dafür, ob ein Gewerbetreibender die berufliche Sorgfalt beachtet (die wiederum ein notwendiges Kriterium für die Bejahung einer unlauteren Geschäftspraxis nach der Generalklausel des Art. 5 Abs. 2 darstellt).
- Auch bei der Suche nach Beklagten mit unbekanntem Wohnsitz durch Gerichte sowie bei der Suche nach den Rechtsinhabern mutmaßlich verwaister Werke ist Treu und Glauben der entscheidende Sorgfaltsmaßstab.
- Die Anfänge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu
Treu und Glauben haben in weiten Teilen die Bindung der Verwaltung an das eigene Vorverhalten zum Gegenstand.
- Das Unionsrecht kennet mittlerweile auch Verhandlungspflichten, die am Grundsatz von
Treu und Glauben orientiert sind.
[...]
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Die vorliegende Untersuchung kann nicht mehr sein als eine ausführliche Skizze, die den derzeitigen Zustand von
Treu und Glauben im Unionsprivatrecht darstellt, untersucht und systematisiert. Die wachsende Rolle dieses Grundsatzes in diesem noch jungen Rechtsgebiet stellt eine neue Entwicklung dar, von der hier nur eine Momentaufnahme hergestellt werden konnte.
Treu und Glauben hält das Recht flexibel, um auf unvorhergesehene Lücken, missbräuchliche Angriffe und neue technische oder gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Der Funktionszusammenhang zwischen den unterschiedlichen Einsatzzwecken von Treu und Glauben ist dabei nicht zwingend durchgehend gegeben. Der Gesetzgeber bedient sich des Maßstabs Treu und Glauben insbesondere dann gerne, wenn er einen gerichtlich nachprüfbaren Mindestverhaltensstandard setzen will, der über eine reine Billigkeitsprüfung hinausgeht, dessen Anforderungen er aber nicht konkret festlegen kann. Treu und Glauben wird im Unionsprivatrecht vor allem auch dafür verwendet, Grundsätze wie Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit in das Privatrecht zu übertragen.
Treu und Glauben ist als unbestimmter Rechtsbegriff, der einen objektiven Maßstab der Fairness, der Offenheit und des verhältnismäßigen Verhaltens bezeichnet, im Unionsprivatrecht eindeutig auf dem Vormarsch. Damit ist322aber keineswegs eine Präferenz für eines der nationalen Modelle verbunden. Es gibt schlicht ein Bedürfnis, einen bestimmten Begriff zu etablieren, um es den Rechtsanwendern in der Diskussion zu ermöglichen, bei der Herausbildung einheitlicher Maßstäbe miteinander zu kommunizieren. Dass dieser Begriff Treu und Glauben sein soll, mag in gewisser Weise dem Zufall geschuldet sein; mit Blick auf unterschiedliche Tradition des Grundsatzes in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnung und dem Common Law erscheint diese Wahl sogar überraschend. Das Europäische Recht hat es jedoch geschafft, diesen Begriff weitgehend zu objektivieren. Darüber hinaus wird Vorbehalten dadurch begegnet, dass Treu und Glauben mit dem Begriff der reasonableness eng verknüpft wird, der dem englischen Recht entstammt. [...]