Sowohl Rechtsprechung98als auch Literatur99anerkennen als Grundregel der Beweislastverteilung im UNKR - wie teilweise bereits zum EKG100 -, dem Grundsatz "onus probandi incumbit ei qui dicit, non qui negat" folgend, übereinstimmend das Regel-Ausnahme-Prinzip. Dieses beruht auf dem sog. Angreiferprinzip: Der Anspruchssteller trägt die Beweislast dafür, dass der Tatbestand der anspruchsbegründenden Norm erfüllt ist. Nach deutscher Rechtsterminologie muss er also die rechtsbegründenden bzw. rechtserhaltenden Tatsachen beweisen, die als Mindesttatbestand erforderlich sind, um die von ihm begehrte Rechtsfolge herbeizuführen. Der Gegner muss seinerseits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausnahmen beweisen, die er für sich in Anspruch nimmt, nach deutscher Zivilrechtsdogmatik also die rechtshindernden, -vernichtenden oder -hemmenden Tatsachen, die dem Entstehen, dem Fortbestand oder der Durchsetzung des Anspruchs entgegenstehen. Welche Tatsachen das jeweils sind, ist im Einzelfall durch Auslegung der materiellen Norm zu entnehmen. Das Regel-Ausnahme-Prinzip ist international konsensfähig. Umfassende rechtsvergleichende Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Grundsatz der Beweislastverteilung in allen für den internationalen Warenverkehr relevanten Rechtsordnungen gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich verankert ist101. Auch liegt die Unterteilung in Regel- und Ausnahmetatbestände37dort dem UNKR zugrunde, wo dieses die Beweislast bewusst regeln will. Dies ergibt sich zum einen aus den oben (s. o. bei Fn. 77) skizzierten Diskussionen zur Vorläuferregelung des Übereinkommens, dem EKG. Es sei daran erinnert, dass dort letztlich fast alle Beweislastregelungen gestrichen wurden, weil diese aufgrund der Geltung des Regel-Ausnahme-Prinzips als überflüssig angesehen wurden. Zum anderen zeigt aber auch die Analyse verschiedener Normen, die Konzeption des Konventionsgebers, wonach der Anspruchsteller grundsätzlich die Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen des Regeltatbestandes trägt und der Anspruchsgegner für die Verwirklichung des Ausnahmetatbestandes beweispflichtig ist: Erfüllt der Verkäufer eine vertragliche Verpflichtung nicht, so kann der Käufer nach den Artikeln 45 I b), 74ff UNKR Schadensersatz verlangen, ohne dass es zur Anspruchsbegründung auf ein Verschulden des Verkäufers ankäme. Gleiches gilt für die spiegelbildliche Haftung des Käufers bei Nichterfüllung einer Vertragspflicht (Artikel 61, 74ff UNKR). Das UN-Kaufrecht geht somit grundsätzlich von einer Garantiehaftung aus, die jedoch durch Artikel 79 UNKR eingeschränkt wird: Ausnahmsweise kann sich die nicht erfüllende Partei nämlich von der Schadensersatzpflicht befreien, wenn sie nachweist, dass der Hinderungsgrund außerhalb ihres Einflussbereiches liegt (Artikel 79 I UNKR). Die Beweislast für diesen Ausnahmetatbestand bürdet diese Norm also entsprechend dem Regel-Ausnahme-Prinzip ausdrücklich der nicht erfüllenden Vertragspartei auf. Als weiterer Beleg mag Artikel 25 UNKR dienen, der im Laufe der Verhandlungen zum UN-Kaufrecht intensiv diskutiert wurde. Diese Norm, die den Begriff der 'wesentlichen Vertragsverletzung' definiert, lässt deutlich die strukturelle Differenzierung zwischen Grund- und Ausnahmetatbestand erkennen, die der Konventionsgeber bewusst zur Beweislastverteilung eingesetzt hat: In materieller Hinsicht ist eine Vertragsverletzung dann 'wesentlich' im Sinne dieser Norm, wenn sie - erstens - für die eine Partei solchen Nachteil zur Folge hat, dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte erwarten dürfen und wenn diese Folge - zweitens - für die Vertragsbrüchige Partei nicht vorhersehbar war. Ursprünglich sollte die verletzte Partei beide Voraussetzungen beweisen müssen. Im Laufe der Diskussionen entwickelte der Konventionsgeber jedoch die Überzeugung, dass es nicht gerechtfertigt ist, der verletzten vertragstreuen Partei neben dem Beweis für den Grundtatbestand (Wesentlichkeit der Vertragsverletzung) auch noch den Beweis für die Vorhersehbarkeit aufzubürden. Deshalb nahmen die Delegierten aufgrund des philippinischen Antrags die heutige "es sei denn"-Klausel in den Wortlaut auf, wodurch sie die Beweislast für die (Nicht-) 38Vorhersehbarkeit bewusst auf die andere - die Vertragsbrüchige - Partei übertragen wollten102Die Differenzierung zwischen Regel und Ausnahme lasse sich regelmäßig aus dem Wortlaut der jeweiligen Norm entnehmen, in dem der Ausnahmetatbestand durch Formulierungen wie "es sei denn", "wenn nicht", "wenn keine" bzw. "sofern nicht" eingeleitet wird. Allerdings sind als weitere Indizien darüber hinaus der Satzbau, die systematische Stellung, der Normzweck sowie die Entstehungsgeschichte und die Materialien heranzuziehen.103
Ergänzt wird der Regeltatbestand durch vereinzelte Sondernormen104 Hierbei handelt es sich aber nicht um Ausnahmen von der Regel, sondern um Ergänzungen des Regeltatbestandes, welche die Beweislast nicht verlagern. Das Fehlen eines Merkmals des Mindesttatbestands kann in diesen Sonderfällen durch ein anderes Merkmal kompensiert werden, so dass der Regeltatbestand trotzdem insgesamt als erfüllt anzusehen ist. Der Beweis für diese Sondertatbestände obliegt auch der Partei, welche den Mindesttatbestand zu beweisen hat. . Beispielhaft sei dies anhand von Artikel 3 I UNKR illustriert: Diese Norm ergänzt Artikel 1 I UNKR dahingehend, dass sie den sachlichen Anwendungsbereich des UN-Kaufrecht auch für Verträge eröffnet, die keine Kaufverträge sind, nämlich für Werklieferungsverträge. Obwohl also das Tatbestandsmerkmal "Warenkaufvertrag" nicht erfüllt ist, kommt UN-Kaufrecht zur Anwendung, wenn es sich um einen Werklieferungsvertrag handelt. Beweispflichtig für den Abschluss eines solchen Vertrages mit entsprechendem Inhalt ist weiterhin die Partei, die sich auf die Anwendung des UNKR beruft und nicht etwa diejenige, die das Vorliegen eines Kaufvertrages bestreitet.39
Das Regel-Ausnahme-Prinzip kann nicht jedes Beweislastproblem lösen, weil es in manchen Fällen zu Ungerechtigkeiten füllten würde105. Daher liegt dieses Prinzip dem UNKR lediglich als Grundprinzip und wichtiges Indiz zugrunde, das aber Korrekturen im Einzelfall nicht ausschließt. Die Beweislastverteilung soll schließlich eine vernünftige Rechtsverwirklichung ermöglichen. Der Grund für Korrekturen ist, dass in manchen Fällen eine bestimmte Art der Beweislastverteilung als unangemessen und ungerecht angesehen wird, wenn die beweispflichtige Partei dabei typischerweise in Beweisnot gerät. Sofern es sich um eine Norm handelt, bei der die typische Beweisnot einer Partei diskutiert und bewusst in Kauf genommen wurde, ist eine solche Korrektur ausgeschlossen. Ansonsten ist davon auszugehen, dass der Konventionsgeber diese Beweisschwierigkeiten nicht gezielt herbeiführen wollte. Eine solche Norm ist etwa Artikel 48 UNKR. Nach der hier vertretenen Ansicht (s. u. Artikel 48, Ziffer 2 bei Fn. 413) bürdet diese Norm dem Käufer, der die Unzumutbarkeit der Nacherfüllung einwendet, die Beweislast dafür auf, dass die Nacherfüllung durch den Verkäufer für ihn (den Käufer) unzumutbar ist. Ob eine solche Korrektur erforderlich ist, beurteilt sich stets danach, ob in einer non-liquet-Situation bezüglich des nicht bewiesenen Tatbestandsmerkmals, abstrakt und generell betrachtet, erhebliche Beweislastschwierigkeiten bestehen. Es kommt also nicht darauf an, dass eine Partei in einem bestimmten Prozess in Beweisnot gerät, weil sie im konkreten Einzelfall den erforderlichen Beweis nicht führen kann, denn Beweislastregelungen sollen gerade in solchen Situationen ihre Wirkung entfalten. Eine solche Beweislastkorrektur im konkreten Einzelfall ist schließlich auch aus Gründen der Rechtssicherheit unzulässig, da die Parteien bei der Beurteilung der Prozessaussichten stets auch die Beweislage prüfen, um das Prozessrisiko abschätzen zu können. Anknüpfungspunkte für die erforderlichen Korrekturen sind bereits im Einheitsrecht selbst und seiner Entstehungsgeschichte enthalten: Erwähnt sei in diesem Zusammenhang erneut die "es-sei-denn"-Klausel des Artikels 25. Die Konferenzteilnehmer haben nach erschöpfender Diskussion der Vertragsbrüchigen Partei die Beweislast für die Vorhersehbarkeit auferlegt. Damit haben sie das Tatbestandsmerkmal von dem anspruchsbegründenden in den rechtshindernden Tatbestand verschoben. Das Erfordernis von einzelnen Korrekturen des Regel-Ausnahme-Prinzips beruht im Wesentlichen auf folgenden zwei Gerechtigkeitserwägungen:40Zum einen können generelle unzumutbare Beweisschwierigkeiten eine Verschiebung der Beweislast gebieten. Vor diesem Hintergrund hat die Wiener Konferenz die soeben angesprochene "es-sei-denn"-Klausel in Artikel 25 UNKR eingefügt. Die Delegierten waren der Ansicht, dass die verletzte Partei generell keine Kenntnis davon haben könne, ob die Vertragsbrüchige Partei die nachteiligen Folgen ihrer Vertragsverletzung voraussehen konnte oder nicht. Zum anderen kann die an sich nicht beweispflichtige Partei eine besondere Nähe zu den beweiserheblichen Tatsachen aufweisen, so dass sie den erforderlichen Beweis leicht führen kann106. Gleiches gilt, wenn sich die maßgeblichen Umstände im Zuständigkeits- bzw. Herrschaftsbereich einer Partei zugetragen haben. In einem solchen Fall wäre es unbillig, der anderen nicht beweisnahen Partei die Beweislast aufzuerlegen107. Der Gesichtspunkt der Beweisnähe wurde auch während der Vorarbeiten zum EKG diskutiert und war Gegenstand zweier Änderungsanträge zur Einführung einer besonderen Beweislastregel seitens der ungarischen und der arabischen Delegation. Zwar wurden beide Anträge im Ergebnis abgelehnt. Dies geschah allerdings nicht, weil diese Korrektur als unsachgerecht empfunden worden wäre, sondern unter anderem vielmehr deshalb, weil die Beweislastumkehr wegen besonderer Beweisnähe einer Partei offensichtlich sei, so dass auf eine Normierung verzichtet werden könne108.
Das UNKR verteilt die Beweislast dort, wo es sie regeln will, nach dem Regel-Ausnahme-Prinzip, woraus sich folgende Grundregeln ergeben:
1.
Die Partei, die einen Anspruch geltend macht, muss die tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchs beweisen.
2.
Die Partei, die eine Ausnahme (Befreiung) geltend macht, muss die tatsächlichen Voraussetzungen der Ausnahme beweisen. Bei der Anwendung einzelner Normen können jedoch Korrekturen geboten sein, die sich in folgende Regeln fassen lassen:41
3.
Die Beweislast kann sich umkehren, wenn die grandsätzlich beweispflichtige Partei typischerweise mit unzumutbaren Beweisschwierigkeiten konfrontiert ist oder die andere Partei in besonderer Nähe zu den beweiserheblichen Tatsachen steht.
4.
Die typische Beweisnot einer Partei führt jedoch dann nicht zu einer Verschiebung der Beweislast, wenn sie vom Konventionsgeber bei der Formulierung der fraglichen Norm bewusst in Kauf genommen wurde.
98S. bereits implizit BGH, Urt. v. 8.3.1995 (BGHZ 129, 75, 81; zur Methodik s. u. bei Fn. 549); Ausdrücklich nunmehr BGH. Urt. v. 30.6.2004 (NJW 2004, 3081 ff; Anm. Müller, IHR 2OO5,16ff); BGH, Urt. v. 9.1.2002 (NJW 2002, 1651, 1653: Anm. Theis, EWiR 2002, 4290; OLG Innsbruck, Urt. v. 1.7.1994 (CISG-online Nr. 107); Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 7.7.2004 (CISG-online Nr. 848), Urt. 19.2.2004 (CISG-online Nr. 839) und Urt. v. 15.9.2000 (CISG-online Nr. 770); Obergericht Luzern, Urt. v. 12.5.2003 (CISG-online Nr. 846); HG Zürich, Urt. v. 1.2.1999 (CISG-online Nr. 488), Erw. 2. d); Tribunale di Rimini, Urt. v. 26.11.2002 (CISG-online Nr. 737; s.o. Fn. 65), Erw. 4; Tribunale di Vigevano, Urt. v. 12.7.2000 (www.unilex.info = Giurisprudenzia italiana 2001, 28Off; s.o. Fn. 64). Auch Juzgado sexto de Primera Instancia del Pnrtido de Tijuana, Urt. v. 14.7.2000 (www.unilex.info), Erw. 4; ICC-Schiedsspruch Nr. 6653/1993 aus dein Jahre 1993 (www.unilex.info); letztere beiden allerdings jeweils unter Zugrundelegung von unvereinheitlichtem Recht (zu diesem Punkt s. u. bei Fn. 515 und bei Fn. 516).
99Hepting, vor Art. 1 Rdnr. 17ff; Schlechtriem, UN-Kaufrecht, Rdnr. 50; Ferrari, Pace Review of the Convention of Contracts for the International Sale of Goods (2000-2001 ), Ziffer 11. Ausführlich zum Regel-Ausnahme-Prinzip etwa Antweiler S. 77.
100Mertens/Rehbinder, Art. 8 EKG Rdnr. 10 mit Nachweisen zur damaligen Literatur.
101Rechtsvergleichend ausführlich Henninger, S. 64ff (zusammenfassend S. 1490f); s.a. Antweiler S. 77ff; Jung S. 44ff.
102Siehe statt vieler Antweiler S. 83ff; Botzenhardt, S. 257. S. ausführlich u. 4 Teil, Artikel 25, Ziffer 4, S. 59f.
103Ferrari, Pace Review of the Convention o Contracts for the International Sale of Goods (2000-2001), Ziffer II; Hepting, vor Art. 1 Rdnr. 27; Herber/Czervenka, Art. 7 Rdnr. 8; zum EKG Mertens/Rehbinder, Art. 8, EKG Rdnr. 10.
104S. Hepting, Art. 3 Rdnr. 1, Art. 9 Rdnr. 5, Art. 10 Rdnr. 6, Art. 14 Rdnr. 6 mit weiteren Beispielen.
105BGH, Urt. v. 30.6.2004 (NJW 2004, 3181, 3182; Anm. Müller, IHR 2005, 16ff). Hierzu und zum Folgenden Hepting, vor Art. I Rdnr. 28-30; Antweiler S. 93ff, Imberg S. 39ff.
106Ausdrücklich jüngst etwa BGH, Urt. v. 30.6.2004 (NJW 2004. 3181, 3182; Anm. Müller, IHR 2005, 16ff); Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 7.7.2004 (CISG-online Nr. 848).
107Schlechtriem/Schwenzer/Ferrari, Art. 4, Rdnr. 51. Hierbei handelt es sich um eine grundlegende Gerechtigkeitserwagung, die auch in anderen Rechtsgebieten zu einer Beweislastumkehr führen kann: So etwa EuGH GRUR 2003, 512, "stüssy" zur Erschöpfung von Markenrechten; Anm. Müller, GRUR 2003, 668ff.
108Antweiler S.98 bei Fn.86.