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Meyer, Olaf, Contra Proferentem? - Klares und weniger Klares zur Unklarheitsregel, ZHR 174 (2010), 108 et seq.

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Meyer, Olaf, Contra Proferentem? - Klares und weniger Klares zur Unklarheitsregel, ZHR 174 (2010), 108 et seq.
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Contra Proferentem? - Klares und weniger Klares zur Unklarheitenregel

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b) Die Unklarheitenregel außerhalb von AGB

Die Diskrepanz zwischen der regelmäßigen Anrufung der Unklarheitenregel im AGB-Prozess und ihrer strikten Nichterwähnung bei sonstigen Auslegungsfragen fällt ins Auge. Es überrascht, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung sich bislang nicht eingehender mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob der Anwendungsbereich der Regel auch auf weitere Fälle erweitert werden kann, in denen eine Partei die Formulierung eines Vertrages oder Vertragsteils nahezu allein geprägt hat133 .

Dabei ist im Schrifttum durchaus Sympathie für eine Anwendung der Zweifelsregel außerhalb von AGB vorhanden. Gänzlich verweigern müssen sich diesem Gedanken nur diejenigen, die den Hauptgrund für die Zurücksetzung der Verwenderinteressen in dessen Formulierungsverantwortlichkeit sehen134 .

Wo individueller Konsens durch Angebot und Annahme zur Aufnahme einer Regel in den Vertrag geführt haben, kann nicht eine Partei anschließend allein die Verantwortung für die Klarheit des Textes übernehmen müssen. Die Trennlinie zwischen Standard- und Individualvertrag ist allerdings keineswegs so eindeutig, wie diese Erklärung vorgibt. Stellt man nämlich auf den mangelnden Einfluss einer Seite auf die Gestaltung ab, ist es keineswegs ungewöhnlich, dass auch komplexe Einzelverträge von einer Seite vorgegeben und dann ohne Verhandlungsspielraum oder allenfalls mit marginalen Änderungen durchgesetzt werden. Wer die Unklarheitenregel als Ausprägung eines Schutzgedankens zugunsten der unterlegenen Vertragspartei versteht, wird ihre Anwendung auf Fälle wirtschaftlicher oder struktureller Unterlegenheit des Vertragsgegners auch im einzelvertraglichen Bereich befürworten können135 . Noch weiter gehen die Autoren, die allein einen dominanten Einfluss einer Vertragspartei auf die Formulierung ausreichen lassen wollen, ohne zu-

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sätzlich auch noch ein generelles Machtungleichgewicht zwischen den Parteien zu verlangen136 .

Auch wenn man den Anreizgedanken für die Begründung der Unklarheitenregel heranzieht, macht es Sinn, solche verhaltenssteuernden Elemente in die Auslegung individualvertraglicher Regelungen mit einfließen zu lassen, wenn auch nur in einem eng begrenzten Maße und stets im Zusammenspiel mit allen anderen auslegungsrelevanten Faktoren. Dadurch ließe sich zudem die Anwendung der Dissens-Regelung nach § 155 BGB, die möglicherweise zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages führt, zurückdrängen. Da es im individualvertraglichen Bereich an der Vorformulierung des Textes für eine mehrmalige Verwendung fehlt, ist die Auslegung nicht verobjektiviert. Es kommt also auf den Verständnishorizont an, den man in der konkreten Situation vom individuellen Vertragspartner erwarten kann. Die Frage lautet daher, ob es dem Ersteller des Vertragstextes angesichts seines Vertragspartners hätte zugemutet werden können, seine Intentionen deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Während die wirtschaftliche Überlegenheit des Erstellers für die Verständnismöglichkeiten seines Vertragspartners grundsätzlich unerheblich ist, können besondere Fachkenntnisse oder langjährige Erfahrung es durchaus nahelegen, dem Formulierenden ein gewisses Maß an Bemühung um klaren Ausdruck abzuverlangen.

Ein Feld, auf dem gerne die Anwendung der Unklarheitenregel vorgeschlagen wird, betrifft Erklärungen mittels moderner Kommunikationstechnologien137 . Die Wahl des Mediums ist für sich aber nicht entscheidend, zumal die elektronische Kommunikation heute für nichtformgebundene Mitteilungen ohnehin vorherrschend ist. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Erklärung von einer Seite formuliert und dem Empfänger ohne inhaltliche Diskussion zur Kenntnis gegeben wurde. Das wird bei elektronisch versandten Erklärungen in der Tat oft der Fall sein. Das Bundesarbeitsgericht wendete daher die Unklarheitenregel gegen einen Arbeitgeber an, der im Intranet eine Gratifikation für diejenigen Mitarbeiter gewährte, „die zur Belegschaft im abgelaufenen Geschäftsjahr gehörten." Der Arbeitgeber hätte in der Erklärung deutlich machen müssen, dass die Zuwendung nicht inzwischen ausgeschiedenen Mitarbeitern zukommen sollte138

133Ohne Begründung verworfen wird die Anwendung auf einen Individualvertrag von BGH VersR 1971,172,173. Schon das RG hielt vor Erlass des AGBG die Regel jedenfalls nicht für allgemein zutreffend, RGZ 131, 343, 350.
134Canaris/Grigoleit (Fn.51), S.462 ; T. Honsell, JA 1985, 260; Sambuc, NJW 1981, 313, 315 f. Skeptisch wohl auch Roth, WM 1991, 2085, 2086; Wacke, JA 1981, 666, 668.
135So hat das OLG Frankfurt/Main eine Arbeitsvertragsklausel gegen den Arbeitgeber ausgelegt, da dieser seinem Arbeitnehmer wirtschaftlich und intellektuell überlegen war, OLGZ 1973, 229, 232. Vgl. ferner Baumann (Fn. 41), S. 69; MünchKommBGB/Busche (Fn. 10), §157 Rdn. 8; Palandt/Ellenberger (Fn. 35), §133 BGB Rdn. 23; Soergel/Wolf (Fn. 55), § 157 BGB Rdn. 59 ; Staudinger/Singer/Benedict (Fn.60), § 153 BGB Rdn. 62; Staudinger/Schlosser (Fn. 24), § 305c BGB Rdn. 101.
136Kötz, FS Zeuner, 1994, S. 230; Flume (Fn. 51), S. 315 f.; Larenz/Wolf (Fn. 42), § 28 Rdn. 56 ; Schmidt-Salzer, VersR 1966,910.
137Ermann/Armbrüster (Fn. 38), § 157 BGB Rdn. 14; Paefgen, JuS 1988,592, 595; Palandt/Ellenberger (Fn. 35), § 133 BGB Rdn. 23; Staudinger/Singer/Benedict (Fn. 60), § 133 BGB Rdn. 62; Staudinger/Schlosser (Fn. 24), § 305c BGB Rdn. 101.
138BAG ZIP 2003,1858,1860.

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